Er schaut dem Bund auf die Finger: Die aussergewöhnliche Karriere von Bundesverwaltungsrichter und Beschaffungsrechtsexperte Marc Steiner

Der Experte für Vergabe- und Beschaffungsrecht erzählt, wieso er als Sprachliebhaber zum Bundesverwaltungsrichter wurde, was das Schweizer Beschaffungsrecht mit der EU verbindet und warum man bei der eigenen Karriere nicht auf andere hören soll.


Themen: Bundesverwaltungsrichter, öffentliches Beschaffungswesen, Beschaffungsrecht, Vergaberecht, BöB, Karriere, EU, Nachhaltigkeit, Korruption, Karrieretipps, Redner, Dozent, Fachhochschule Bern, Bundesverwaltungsgericht.
Informationen zur Person auf Weblaw People: Marc Steiner
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Lesezeit: 7 Minuten.

 

Guten Tag Herr Steiner, wir freuen uns, mehr über Ihre Tätigkeit zu erfahren. Könnten Sie bitte kurz Ihren beruflichen Werdegang schildern?

 

Also eigentlich ist ja schon die Juristerei aus der Sicht meines ursprünglich geplanten Lebenslaufs so etwas wie ein Betriebsunfall. Aus mir sollte ein Literaturwissenschaftler oder ein Gymnasiallehrer für Deutsch und alte Sprachen werden. Eine in eigener Sache geführte erfolgreiche Disziplinargerichtsbeschwerde gegen einen militärischen Arrestbefehl hat mir einen anderen Gebrauch von Sprache als erstrebenswert erscheinen lassen. Ich bin im Übrigen nach wie vor überzeugt, dass Literaturwissenschaftler, Juristinnen und Theologen Methoden verwenden, die einander ähnlicher sind als die Vertreterinnen der verschiedenen Disziplinen denken würden. Dieser Ansatz hat mich vielleicht davor bewahrt, die Juristerei als «Kauen von Holzmehl» (Franz Kafka) zu erleben.

 

Und wie sind Sie zum Bundesverwaltungsrichter geworden?

 

Nach einer Assistenzstelle an der  Universität Basel , die ich aufgegeben habe, weil ich mich nicht zum Verfassen einer Doktorarbeit motivieren konnte, bin ich am Verwaltungsgericht des Kantons Aargau gelandet. Dort wurde die Frage gestellt, wer denn Lust auf ein neues Fach habe. Meine spätere Chefin, Verwaltungsrichterin Elisabeth Lang, hat sich für das öffentliche Beschaffungswesen gemeldet, was meinem Leben die entscheidende Wendung gegeben hat. Vorher war ich eher auf Völkerrecht getrimmt mit Wahlfachstudium bei Prof. Luzius Wildhaber. Der Mix zwischen Wirtschaftsverwaltungsrecht und Völkerrecht hat auch dazu geführt, dass das Integrieren von welthandelsrechtlichen und europarechtlichen Argumentationslinien naheliegend war. Das hat mir sehr geholfen. Der Blick über den Tellerrand ist ohnehin ein ganz wichtiger Punkt in einem wirtschaftsrechtlichen Lebenslauf.

 

Sie gelten als führender Experte für Vergabe- bzw. Beschaffungsrecht. Was hat Ihre Leidenschaft für dieses Rechtsgebiet geweckt?

 

Das könnte auch ein Nachteil sein, weil insbesondere Mitglieder von Wahlorganen dann denken, der kann sonst nichts. Kennerinnen und Kenner wissen aber, dass ich als Bezirksgerichtspräsident tätig war und am  Bundesverwaltungsgericht  mein Brot nicht nur mit Beschaffungsfällen verdiene. 

Ich bin nur bekannt geworden, weil ich im Rahmen der Vergaberechtsreformphase versucht habe, eine Sprache zu sprechen, die nicht nur Juristinnen und Juristen verstehen. - Marc Steiner

Wie auch immer hat mich das öffentliche Beschaffungswesen fasziniert, weil es ein ganz besonderer Mix ist. Dies darum, weil sich der Staat mit dem Vergaberecht (im Unterschied zu Kartell- und Finanzmarktrecht) selbst reguliert, also die Auftraggeberseite. Und zugleich handelt es sich trotzdem um klassisches Wirtschaftsverwaltungsrecht, weil der öffentliche consumer choice aufgrund seiner grossen Hebelwirkung natürlich der Sache nach auch economy design ist im Sinne einer Summe von Anreizen. Und die wirklich führenden Experten sind in der Deutschschweiz selbstverständlich die einschlägig bekannten Professoren Hans Rudolf Trüeb und Martin Beyeler usw. Ich bin nur bekannt geworden, weil ich im Rahmen der Vergaberechtsreformphase versucht habe, eine Sprache zu sprechen, die nicht nur Juristinnen und Juristen verstehen.

 

Wie sieht Ihr typischer Arbeitsalltag aus?

 

Ich versuche, meine verschiedenen Jobs unter einen Hut zu bringen. Zunächst einmal gilt es dem  Bundesverwaltungsgericht  als Arbeitgeber zu danken, dass solche Teilzeitstellen überhaupt angeboten werden. Dann versehe ich im Nebenamt eine Dozentenstelle an der  Berner Fachhochschule  und zuletzt kommt die Vortragstätigkeit, die gegenüber der Steuerverwaltung als selbständiger Nebenerwerb deklariert wird.

Ein dänischer Kollege hat einmal scherzhaft gemeint, mit der Art, wie ich meinen Job mache, würde ich in Süditalien nicht länger als 14 Tage überleben. - Marc Steiner

Aber wenn Sie die Richterposition ansprechen, gilt es am Morgen, auf den Posteingang zu reagieren und vor allem bei neu eingehenden Beschwerden die richtigen Massnahmen zu treffen. Als Fachkoordinator für das öffentliche Beschaffungswesen stelle ich Anträge zur Zuteilung neuer Fälle. Gestützt darauf entscheidet das Abteilungspräsidium, ob der Zuteilungscomputer, der sogenannte Bandlimat, angeworfen oder zum Beispiel wegen Konnexität mit bereits hängigen Fällen ausnahmsweise eine Zuteilung von Hand erfolgt. Bekomme ich den Fall selbst, muss gleichentags eine Verfügung raus, mit welcher die superprovisorisch gestellten Anträge beurteilt werden. Das bedeutet für die Vergabestelle regelmässig einen «einstweiligen Baustopp». Mit anderen Worten: Als Vergaberichter macht man sich bei Bundesrat und Bundesverwaltung nicht wirklich beliebt. Ein dänischer Kollege hat einmal scherzhaft gemeint, mit der Art, wie ich meinen Job mache, würde ich in Süditalien nicht länger als 14 Tage überleben.
 
Was ist denn ein Fachkoordinator?

 

Bei Gründung des Bundesverwaltungsgerichts war in unserer Abteilung die Meinung vorherrschend, dass jede Verwaltungsjuristin und jeder Verwaltungsjurist, die bzw. der das Verwaltungsprozessrecht beherrscht, in jeder verwaltungsrechtlichen Disziplin eingesetzt werden kann. Mit anderen Worten sollten sich die Spezialistinnen und Spezialisten nicht so wichtig nehmen. Zum Glück haben uns Rollenmodelle wie die heutigen Bundesrichter Michael Beusch und Thomas Stadelmann immer gesagt, dass das eine veraltete Sichtweise ist. Wir können mit den hochspezialisierten Vorinstanzen und Wirtschaftsanwaltskanzleien nur mithalten, wenn wir uns selbst auch spezialisieren. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir in der Abteilung II im Rahmen einer Revision des Abteilungsreglements Fachgebiete geschaffen, die von einem Mitglied des Abteilungspräsidiums geführt und von einem Fachkoordinator betreut werden. Die heikelste Aufgabe dieser Fachpools ist es, mit den Mitteln lateraler «Führung» für eine Koordination der Rechtsprechung zu sorgen.

 

Das neue Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) ist nun seit 3 Jahren in Kraft. Wie fällt Ihre Bilanz bezüglich dessen Auswirkungen aus?

 

Die Vergaberechtsreform ist nach meiner nicht ganz unbefangenen Beurteilung ein echter Wurf.  Das revidierte Beschaffungsrecht – eine Würdigung – Bauenschweiz  Qualitätswettbewerb, Innovation und Nachhaltigkeit sind die Leitbegriffe. Dank der parallelen Revision des BöB und der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) gelten nun (endlich!) für Bund, Kantone und Gemeinden im Wesentlichen dieselben Regeln. Noch sind nicht alle Kantone der IVöB beigetreten, aber seit diese – mit Inkrafttreten per 1. Oktober 2023 – auch im Kanton Zürich gilt, ist das wie ein gefühlter point of no return der Vergaberechtsreform.

 

Einige Vergabestellen sind trotz Rückenwind immer noch mit angezogener Handbremse unterwegs, was die Reformziele angeht. Aber dafür gibt es ja Umsetzungshebel. Erstens Beschaffungsstrategien, zweitens Branchendialog und drittens Monitoring dank «big data» im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesen. So lässt sich zum Beispiel leicht analysieren, welche Vergabestelle bei welcher Vergabe den Preis wie hoch gewichtet. Und wenn Alle merken, wie leicht das ist, setzt dann auch die politische Debatte darüber ein, wer sich warum bewegt und wer sich warum nicht bewegt.

In der Umsetzung sind wir nach meiner Beobachtung weniger ambitioniert als Deutschland und Österreich. - Marc Steiner

Nachhaltigkeit spielt eine zentrale Rolle im modernen Beschaffungsrecht. Wie schätzen Sie die Position der Schweiz in diesem Bereich ein?

 

Das neue Vergaberecht ist sehr europäisch inspiriert und das europäische Vergaberecht (Richtlinien 2014) ist wiederum sehr progressiv. Man durfte während einer bestimmten Phase der Reform – also solange sie parallel lief zur Diskussion des Institutionellen Abkommens CH-EU – nicht so laut sagen, dass wir im Wesentlichen europäische Regulierungslogik autonom nachvollziehen. Aber wahr ist es natürlich trotzdem. Darum ist es auch wichtig, dort, wo unser Recht europäischer Regulierung nachgebaut ist, auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg im Auge zu haben. In der Umsetzung sind wir nach meiner Beobachtung weniger ambitioniert als Deutschland und Österreich. Darum mache ich mir den Spass, gelegentlich Akteurinnen und Akteure aus den Nachbarländern einzuladen, um unserem Publikum zu zeigen, was bei entsprechendem politischem Willen möglich wäre. Dafür beneiden uns die Deutschen um die gelungene Harmonisierung. Früher hat es geheissen «Tu felix Austria!». Aber jetzt sind wir in diesem Bereich auch nicht schlecht.

 

Also die EU als leuchtendes Vorbild?

 

So einfach ist die Welt auch wieder nicht. Wer den Wahlkampf von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin verfolgt, spürt schnell, dass die EU ihrer Meinung nach jetzt andere Probleme hat als den «Green Deal», der im Rahmen des letzten Wahlkampfs noch das Hauptthema war.

 

Es gilt also, das «Green Economy»-Konzept in der Schweiz wie in der EU mit allen Kräften zu verteidigen, weil immer wieder das Argument vorgetragen wird, es gebe derzeit andere Prioritäten. So gesehen bin ich beispielsweise sehr glücklich über das vom Volk deutlich angenommene Klimagesetz, das den öffentlichen Sektor zur Vorbildrolle verpflichtet, und das schweizerische Kreislaufwirtschaftspaket, das die Vergaberechtsrefom ideal ergänzt.

Schon gewusst?

Alle Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sind in einer zentralen Datenbank verfügbar.

Zur Datenbank

Sie nehmen regelmässig als Referent an Konferenzen aller Art teil. Wer ist Ihr Publikum?

 

Das ist wahrscheinlich ein Markenzeichen meines Lebenslaufs, dass ich wegen der Vergaberechtsreform gelernt habe, zu Nichtjuristinnen und Nichtjuristen zu sprechen. Und dann habe ich auch andere Themen als das öffentliche Beschaffungswesen. Einer meiner letzten Inputs an der  Berner Fachhochschule  hatte die Seinsweise des öffentlichen Sektors und die Interdisziplinarität zum Thema. Der originellste Vortrag war sicher der zum Unterschied zwischen dem Jüngsten Gericht und irdischer Justiz. Und vor ein paar Wochen habe ich vor Publikum mit dem Autor eines Buches über die Rolle von intellektuellen in der Gegenwart gesprochen. Aber auch im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens tanze ich aus der Reihe. Auf meiner Agenda ist beispielsweise die Tagung des Infrastrukturbauverbands im KKL Luzern der wichtigere Termin als die juristischen Tagungen zum Vergaberecht. Und die Weiterbildungsangebote der Berner Fachhochschule richten sich an die Einkäuferinnen und Einkäufer, nicht an Beschaffungsjuristinnen und -juristen. Nur wenn wir dieses Publikum mitnehmen, können wir aus der Vergaberechtsreform eine echte Transformationserfahrung machen. Und trotzdem kann es zugleich gelingen, als Projektpartner an einem Nationalfondsforschungsprojekt beteiligt zu sein, also einen Forschungsschwerpunkt zu setzen. Ich bin mit meinem Gemischtwarenladen eigentlich ganz zufrieden.

 

Sie engagieren sich als Beirat von Transparency International gegen Korruption im öffentlichen Beschaffungswesen. Welche Bereiche sind in der Schweiz anfällig für Korruption?

 

Das ganze öffentliche Beschaffungswesen ist anfällig auf Amtsmissbrauch und Korruption. Das  Bundesstrafgericht  in Bellinzona zitiert denn auch gelegentlich einschlägige Literatur zum Vergaberecht. «Good governance» ist folgerichtig ein wichtiges Ziel der Vergaberechtsreform. Das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema ist und bleibt aber bescheiden. Die  Publikation  von Elisabeth Lang und mir zur Korruption im öffentlichen Beschaffungswesen ist auf «ResearchGate» und «GoogleScholar» einer der am schlechtesten zitierten Titel. Und wenn Sie in der Schweiz nach Spezialliteratur zur Verteidigungsbeschaffung fragen, herrscht erst recht gähnende Leere. Aber das ist offenbar so gewollt.

 

Welche Ratschläge möchten Sie Jurastudierenden geben, die sich für eine Karriere am Verwaltungsgericht oder im Beschaffungsrecht interessieren?

 

Also in einem durchschnittlichen Jusstudium kommt das Beschaffungsrecht nach meiner Beobachtung nicht vor. (Einige Hochschulen, die hier als Avantgarde einen Akzent setzen, bestätigen als Ausnahme die Regel.) Es handelt sich trotz über 40 Milliarden Beschaffungsvolumen pro Jahr nach wie vor um eine klassische Orchideendisziplin. Ich würde also vor allem denjenigen, die sowieso schon beispielsweise mit Kartellrecht in Berührung gekommen sind, mitgeben, dass es einen guten Grund gibt, warum im europäischen Wirtschaftsrecht Wettbewerbsrecht, Beihilferecht und Vergaberecht zusammen unterrichtet werden. Das Beihilferecht wird in nächster Zeit ebenso an Bedeutung gewinnen wie dies für das öffentliche Beschaffungswesen der Fall ist. Und: Schnittstellenwissen ist von unschätzbarem Wert. Wirtschaftsrechtlerinnen wissen, dass ein Kompetenzenmix aus geistigem Eigentum und Wettbewerbsrecht immer gerne gesehen ist. Dasselbe gilt natürlich auch für die Schnittmenge zwischen Kartellrecht und Vergaberecht.

Was Erfolg ist, wird von vielen Kolleginnen und Kollegen mangels Fantasie viel zu eng gesehen. - Marc Steiner

Aber Ihre Frage bezieht sich völlig zu Recht auch auf das öffentliche Recht im Allgemeinen. Wenn Sie, liebe Jurastudierende, glauben, dass das öffentliche Interesse – frei nach Aristoteles - mehr ist als die Summe aller Teile bzw. aller Lobbyimpulse, dann werden Sie an diesem Gebiet nachhaltig Gefallen finden. Der Staat ist kein Unternehmen, sondern eine Organisation, die zum Ziel hat, Werte zu leben. Zynikerin oder Zyniker werden macht keinen Spass, schon gar nicht in der Justiz. Eine Justizkarriere lässt sich ebensowenig planen wie eine akademische. Aber es macht auf jeden Fall Sinn, ein Gericht auf Gerichtsschreiberstufe von innen zu erkunden. Ich selbst habe viele Gerichte von innen gesehen, darunter das Bundesgericht (als Gerichtsschreiber) und den Gerichtshof in Luxemburg (zwei Praktika). Und: Hören Sie nicht auf die Anderen! Mir wurde damals allen Ernstes gesagt, ein Praktikum am EuGH sei nicht erstrebenswert, weil es für das basellandschaftliche Anwaltspatent nicht anrechenbar sei. Was Erfolg ist, wird von vielen Kolleginnen und Kollegen mangels Fantasie viel zu eng gesehen. Wenn ich nach dieser Maxime hätte leben wollen, hätte ich ab dem Moment, wo namentlich aufgrund meines zu hohen Paradiesvogelanteils klar war, dass ich weder Bundesrichter, Mitglied der Gerichtsleitung noch Abteilungspräsident werden würde, schlicht auf die Pensionierung warten müssen. Fazit: Machen Sie aus sich eine Marke! Nicht erstrebenswert ist ein Lebenslauf, dem man ansieht, dass Sie auch nach vielen Jahren Berufserfahrung eigentlich nach wie vor nicht wissen, was Sie wollen. Geschafft haben Sie es dann, wenn Sie spüren, wie aus den – scheinbar erratisch aufeinander gebauten – Bausteinen Ihres Lebenslaufs gefühlt eine Kugel wird. Nicht die grösste, sondern eine schön runde Kugel ist das Ziel.

 

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Welt des beschaffungsrechts und des Bundesverwaltungsgerichts. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute!

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