Er verteidigt die Benachteiligten: Der Kampf für mehr Gerechtigkeit im Strafrecht von Strafverteidiger Dr. Stephan Bernard, LL.M.

Der Strafverteidiger erzählt, was ihm an seiner Tätigkeit besonders gefällt, wie er mit der psychischen Belastung umgeht und warum der Rechtsschutz oft gerade dort versagt, wo es besonders auf ihn ankommt.


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Informationen zur Person auf Weblaw People: Dr. Stephan Bernard, LL.M.
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Lesezeit: 7 Minuten.

 

Guten Tag Herr Bernard. Sie sind als Strafverteidiger und Mediator bei der  Advokatur Aussersihl  tätig und ausserdem Lehrbeauftragter an der  Universität Freiburg  und der  FHNW. Könnten Sie uns bitte Ihren Karriereweg beschreiben, insbesondere wie Sie zum Strafverteidiger wurden?

 

Ich habe begeistert und für mich wie mein Umfeld völlig überraschend Jus studiert, obwohl mir 1995 Philosophie und Geschichte deutlich näher gelegen wären. Ich ging in die Praxis, obwohl ich während meines Studiums sicher war, dass ich rechtshistorisch dissertieren werde und nicht die geringste Lust auf einen herkömmlichen juristischen Beruf verspürte. Dissertiert habe ich dann erst nach 40 zu einem strafprozessualen und rechtsphilosophischen Thema und bin zuerst nach gänzlich ungeplanten Stationen beim Mieter*innenverband Bern, am Zürcher Bezirksgericht und als Anwaltssubstitut bei einem Allgemeinpraktiker mehr bewusst fahrlässig als eventualvorsätzlich mit knapp 30 Jahren selbständiger Rechtsanwalt geworden. Zunächst ebenfalls Allgemeinpraktiker kristallisierte sich mit der Zeit Strafverteidigung, Familienmediation und Wissensvermittlung als Schwerpunkt heraus. Ich bin daher definitiv nicht der Typ Masterplan, sondern eher intuitiv in der Lebensgestaltung; das Wort Karrierenweg scheint mir daher auch nicht passend für mich.  

 

Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag für Sie aus?

 

Ich bin etwas weniger als die Hälfte meiner Zeit extern, am Gericht, an Einvernahmen oder an Gefängnisbesuchen. Der etwas grössere Teil meiner Zeit bin ich im Büro, telefoniere mit Staatsanwält*innen, Klient*innen, Polizist*innen, Gegenanwält*innen, Angehörigen von Klient*innen, bearbeite die Emailflut, diskutiere mit meinen Bürokolleg*innen, habe Sitzungen mit Klient*innen, lese Akten oder schreibe Eingaben und Plädoyers, mache meine Buchhaltung und erledige den übrigen Bürokram, der jede*r Kleinunternehmer*in hat. Einen typischen Arbeitsalltag gibt es nicht: An jedem Tag ist dies anders verteilt.

 

Was begeistert Sie besonders an der Tätigkeit als Strafverteidiger?

 

Ich sehe meinen Beruf als gesellschaftlich relevant und sinnig an. Und mir gefällt die grosse Freiheit und die Vielfalt meines Alltags.

 

Als Strafverteidiger werden Sie oft mit tragischen Schicksalen konfrontiert. Wie bewältigen Sie diese psychischen Herausforderungen?

 

Ich habe jahrelang bei einer Psychologin Supervisionen in Anspruch genommen. Ich arbeite seit jeher Teilzeit, heute rund 80%, weil ich meine Kinder stets zu 50% betreut habe und gern auch im Haushalt tätig bin; das gibt mir einen guten Ausgleich. Ich pflege einen grossen Freund*innenskreis mit vor allem Nicht-Jurist*innen, lese breit und viel, meditiere regelmässig, praktiziere Yoga, fahre im Winter Ski und gehe in die Sauna.

 

Sie engagieren sich bei verschiedenen Organisationen wie der  Fachstelle für Sozialhilferecht ,  humanrights.ch , der  Internationalen Juristenkommission  und dem  Anwaltskollektiv  für einen besseren Zugang zum Recht. Warum sind solche Initiativen in einem Rechtsstaat wie der Schweiz überhaupt notwendig?

 

Gesellschaftliche Gruppen mit wenig sozioökonomischen Ressourcen haben nicht nur politisch einen schweren Stand, sondern auch rechtlich. Die Interessen von Mietenden, Arbeitnehmenden oder Konsument*innen, welche im Vergleich zu Vermietenden, Arbeitgebenden oder Unternehmen zwar auch ökonomisch weniger privilegiert sind, lassen sich politisch und juristisch halbwegs noch bündeln und vertreten. Denn ihre Anliegen betrifft doch eine stattliche Anzahl von Menschen, die hinsichtlich ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kapitals auch teils relativ gut situiert sind. Einen vollständigen, fairen Interessenausgleich gibt es auch da nicht, aber doch Ansätze davon.

Der Ausnahmezustand für Marginalisierte ist somit in einer soziökonomisch ungleichen Gesellschaft auch in einen liberalen Rechtsstaat systemisch eingeschrieben; der Rechtsschutz versagt daher meist just gerade dort, wo es besonders auf ihn ankäme. - Dr. Stephan Bernard, LL.M.

Die Interessen der Asylsuchenden, Zwangspsychiatrisierten, Sozialhilfebeziehenden, Invaliden oder Strafgefangenen haben einen noch viel schwereren Stand. Denn es handelt sich um jeweils weniger Betroffene mit – und darauf kommt es entscheidend an – meist in nahezu jeder Hinsicht sehr eingeschränkten sozioökonomischen Ressourcen und geringen Gestaltungsräumen in der gesamten Lebensführung. Sie stehen deshalb im Ergebnis vielfach allein am Rand, weil sie nur auf die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft hoffen, aber keine schlagkräftige Lobby bilden können. Es entspricht somit fast einer unausweichlichen Logik, dass letztere wenige Fürsprecher*innen in der Politik und der Justiz haben, kaum Anwält*innen finden und ihnen daher der Zugang zum Recht regelmässig versperrt bleibt. Der Ausnahmezustand für Marginalisierte ist somit in einer soziökonomisch ungleichen Gesellschaft auch in einen liberalen Rechtsstaat systemisch eingeschrieben; der Rechtsschutz versagt daher meist just gerade dort, wo es besonders auf ihn ankäme.

 

Auch die Überlastung der Strafjustiz sorgt aktuell für Diskussionsstoff. Welche Änderungen halten Sie im schweizerischen Rechtssystem für erforderlich, um den vielfältigen Herausforderungen zu begegnen?

 

In jüngerer Zeit wird in juristischen Fachkreisen und der Öffentlichkeit wiederkehrend über die Überlastung der Strafjustiz und über rasche operative Lösungen als Abhilfe diskutiert. Für konservative, punitive oder auch positivistisch orientierte Fachkräfte ist die Überlastung der Strafjustiz gleichsam naturgegebenes Faktum. Sie neigen dazu, eine Aufrüstung der Strafjustiz und den Abbau von rechtsstaatlichen Standards zur Effizienzsteigerung zu fordern. Liberale Stimmen, die der Leitlinie der ultima ratio im Strafrecht und basalen rechtsstaatlichen Standards nach wie vor eine wegweisende Bedeutung zumessen, wagen bei solchen vorschnellen Antworten gleich mehrere grosse Fragezeichen zu setzen. Sie fragen sich zunächst, ob die Strafjustiz überhaupt überlastet ist – oder der Überlastungsdiskurs nicht über die Hintertüre primär der Aufrüstung der Strafjustiz dient. Zumal sogar der Bundesrat in einer Stellungnahme vom 15. November 2023 ausdrücklich festgehalten hat, dass trotz deutlich gestiegener Wohnbevölkerung sowohl die Anzahl polizeilich bekannt gewordener Delikte wie auch die Anzahl verurteilter Erwachsener seit 2014 rückläufig sind. Sie weisen des Weiteren auch darauf hin, dass die Organisation der Strafjustiz eine kantonale Kompetenz ist und dass es bislang keine validierte, Schweiz weit gültige Studie zu der Thematik gibt. Liberalen Kräften fällt zudem seit mehreren Jahrzehnten mit grosser Besorgnis auf, dass Strafrecht längst nicht nur gegen massiv Sozialschädliches eingesetzt, sondern als vermeintliches gesellschaftliches Allheilmittel angesehen wird.

Schon gewusst?

Dr. Stephan Bernard, LL.M. veröffentlichte 2024 sein Werk „Insistieren auf der Sprengkraft des Rechts“, das faszinierende und kritische Einblicke in die Strafjustiz bietet.

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Bei Lichte betrachtet leidet die Schweiz daher nicht an einem formalistischen Strafprozess, abnehmender Sicherheit oder zu wenig Ressourcen in der Strafjustiz, sondern vor allem daran, dass deutlich zu viele Probleme über das Strafrecht angegangen werden. Und sich diese Vorgehensweise dysfunktional für eine vernünftige, ausgleichende Lösung derselben Probleme auswirkt. Wenn daher die Strafjustiz tatsächlich überlastet sein sollte, was derzeit schlicht nicht feststeht, läge dies vor allem daran, dass das Strafrecht gemessen am liberalen Grundsatz der ultima ratio seit rund 30 Jahren zweckentfremdet wird. Um dies an Beispielen festzumachen: Aus liberaler Sicht taugt Strafrecht nicht als zentrales Instrument der Migrations- und Suchtmittelkontrolle. Die Verfolgung von oftmals nur vermeintlich ungerechtfertigten Sozialversicherungsleistungen steht in keinerlei vernünftigem Verhältnis zum Schädigungspotential. Und die zunehmende Umdeutung des reaktiven Strafrechts in ein Präventionsstrafrecht ist mit Blick auf rechtsstaatliche Grundsätze ohnehin problematisch; hier droht mittlerweile effektiv eine Enklave des Ausnahmezustandes. Leitstern dieser international beobachtbaren Kriminalpolitik ist – wie der renommierte Rechtssoziologe Loïc Wacquant in «Bestrafen der Armen» minutiös herleitet – nicht mehr das Doppelgespann Verbrechen und Strafe, sondern die Regulierung der sozialen Unsicherheit und die Disziplinierung von wenig Privilegierten.

 

Mit einer Rückbesinnung auf tradierte liberale Grundsätze könnte sich die Strafjustiz daher endlich wieder ausschliesslich auf effektiv schädliche Kriminalität und damit ihr Kerngeschäft konzentrieren. Der heutige Personalbestand und die vorhandene Infrastruktur reichten dafür längst aus; jede weitere Diskussion über Überlastung wäre vollkommen obsolet. Statt rasch mit operativer Aufrüstung als Reaktion auf die vermeintliche Überlastung der Strafjustiz zu antworten, müsste die Debatte mit der Grundsatzfrage beginnen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten.

Je ungleicher eine Gesellschaft bezüglich der faktischen Machtverhältnisse und der Ressourcenverteilung ist, desto härter wird strafrechtlich vorgegangen. Gleichzeitig schleichen sich Vorteile für Privilegierte in die Strafjustiz ein. - Dr. Stephan Bernard, LL.M.

In Erinnerung zu rufen ist dabei die grossangelegte internationale Metastudie von Richard G. Wilkinson/Kate Pickett, «Gleichheit ist Glück», die empirisch belegt zutage förderte: Je ungleicher eine Gesellschaft bezüglich der faktischen Machtverhältnisse und der Ressourcenverteilung ist, desto härter wird strafrechtlich vorgegangen. Gleichzeitig schleichen sich Vorteile für Privilegierte in die Strafjustiz ein. Ungleiche Gesellschaften geben mehr Geld für die Justiz und den Strafvollzug und weniger Geld für Bildung und Sozialfürsorge aus. In ungleichen Gesellschaften hängt das Risiko, bestraft zu werden, stärker mit sozialer Schicht und Ethnie zusammen. In egalitäreren Gesellschaften kommen zudem Verbrechensfurcht, Misstrauen und eine punitive Grundhaltung weniger vor. Ein scharfes Strafrecht und gesellschaftliche Ungleichheit korrelieren daher ebenso wie ein liberales Strafrecht und eine egalitärere Gesellschaft.

 

Dies alles sollte zu denken geben: Jede vorschnelle punitive Aufrüstung der Strafjustiz und jeder rechtsstaatliche Abbau im Namen der Effizienz trägt letztlich dazu bei, uns noch weiter wegzuführen vom grundlegenden normativen Versprechen der Moderne einer liberalen, egalitären, demokratischen Gesellschaft –- und trägt gleichzeitig zum Ausbau des postdemokratischen, autoritären Exekutivstaats bei. Insgesamt hat sich wegen dieser deutlichen politischen Tendenz das Strafrecht ohnehin bereits seit rund 30 Jahren weit weg von grundsätzlichen Postulaten der Gerechtigkeit, Fairness, Rechtssicherheit und Gleichbehandlung unabhängig von sozialer Schicht und Herkunft bewegt. Es befindet sich deshalb aus einer rechtsphilosophischen Perspektive in einer ernsthaften Legitimationskrise. Das schulüberschiessende Präventionsstrafrecht von der Anordnung präventiver Haft bis hin zu sichernden und therapeutischen stationären Massnahmen ist beispielsweise viel zu wenig limitiert. Es fehlt hier an elementaren gesetzlichen Grundlagen, auf die sich Betroffene wirkungsvoll berufen können, was zu gravierender Rechtsunsicherheit bei jahrelangen Freiheitsentzügen führt. Die frappante Ungleichbehandlung von ausländischen Staatsangehörigen im Strafrecht (Landesverweisung, Freiheitsentzüge bei Bagatellkriminalität, markant mehr Untersuchungshaft etc.), aber auch über das strafende Verwaltungsrecht (Administrativhaft, Eingrenzungen etc.) ist ein weiterer grundsätzlicher Verstoss gegen die tatsächliche Gleichbehandlung. Sodann gibt es weitere zahlreiche gesetzliche Anlagen, die in Kombination mit der Rechtspraxis zu einer markanten Ungleichbehandlung je nach Herkunft und sozialer Schicht führen. Exemplarisch: Die Anzahl von Freiheitsentzügen im Rahmen von Ersatzfreiheitstrafen für wenig Vermögende; die kaum umfassend untersuchten Entlastungsmöglichkeiten im gesamten materiellen und formellen Strafrecht für ökonomisch und sozial Privilegierte; die Problematik von Strafbefehlsverfahren hinsichtlich fehlender Kontrolle durch Gerichte und die Verteidigung und deren fatale Auswirkungen gerade für Bildungsferne und ökonomisch wenig Privilegierte; Herkunft und Schicht abhängige Ungleichbehandlungen von der Anordnung von Untersuchungshaft über die Behandlung in der Strafuntersuchung bis zu den Strafurteilen. Misst man daher das Strafrecht in seiner rechtstatsächlichen Auswirkung daran, ob der Umgang der blinden Göttin Justitia mit den Betroffenen effektiv ohne Ansehen der Herkunft und sozialen Schicht erfolgt, liegt derzeit sehr vieles im Argen.

 

Zusammenfassend: Wir haben rund um das Strafrecht gravierende Missstände, die menschenrechtliche, rechtsstaatliche und demokratische Grundanliegen betreffen. Das sollten wir zuerst angehen statt eines echauffierten Diskurses über eine möglicherweise in ihren operativen Abläufen überlastete Strafjustiz zu führen, der sich nicht einmal auf solid erhobene, validierte Studien abstützen kann. 

 

Nun zu einem anderen Aspekt aus Ihrer Laufbahn. Was hat Sie dazu bewegt, neben Ihrer Rolle als Strafverteidiger als Familienmediator tätig zu werden?

 

Ich sehe dort ein ganzes anderes (vielfach typisch mittelständisches) Publikum mit anderen Sorgen. Ich bin dort ausgleichend, vermittelnd und nicht primär juristisch tätig ist. Und ich arbeite mit einer Psychotherapeutin in Co-Mediation und wir lernen gegenseitig viel voneinander. Das alles gibt mir einen guten beruflichen Ausgleich zur Strafverteidigung und führt auch zu überraschenden Veränderungen als Strafverteidiger. Die Tätigkeit als Mediator bereichert damit insgesamt meine berufliche Praxis und trägt auch zur persönlichen Weiterentwicklung bei.

 

Welche Ratschläge möchten Sie angehenden Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern mit auf ihren Weg geben?

 

Ich glaube zentral ist vor allem, den eigenen Weg zu finden. Paternalistische Ratschläge sind daher geradezu selbstwidersprüchlich. Nach meiner Ansicht sind die wichtigsten Voraussetzungen für den Beruf: Der Mut sich selber zu trauen und sich etwas zuzutrauen sowie die Bereitschaft konsequent für das anvertraute fremde Interesse einzustehen. Ist dies beides wirklich im tiefen Inneren vorhanden, sind alles übrige vernachlässigbare technische Details, die man ohne weiteres lernen kann.

 

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in Ihre Tätigkeit und in das Schweizer Strafrecht. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute!

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