Das oberste Gericht unter der Lupe: Bundesrichter Thomas Stadelmann über die Aufgaben und Herausforderungen eines Bundesrichters

Der Bundesrichter erzählt welche Voraussetzungen gute BundesrichterInnen mitbringen müssen, zeigt auf, wie man die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter schützen kann und enthüllt, warum nicht alle Beratungen öffentlich abgehalten werden.


Themen: Bundesrichter, Notar, Eidg. dipl. Steuerexperte, Unabhängigkeit, Richterwahl, Judikative, Gewaltenteilung, Politik, Justiz, Öffentliche Sitzungen, Karrieretipps, Richterzeitung, Universität Fribourg, Universität Basel, die Mitte, Öffentlich-rechtliche Abteilung, Bundesgericht.
Informationen zur Person auf Weblaw People: Dr. h.c. Thomas Stadelmann.
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Lesezeit: 9 Minuten.

 

Guten Tag Herr Stadelmann, wir schätzen sehr, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen konnten. Könnten Sie bitte Ihren beruflichen Werdegang schildern und insbesondere Ihren Weg zum Bundesrichter näher erläutern?

 

Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und die Gelegenheit, ein paar Überlegungen zu Fragen rund um die Judikative zu präsentieren.

 

Zu Ihrer Frage zu meinem Werdegang: Ich habe nach dem Abschluss meines Ius-Studiums in  Fribourg  und der Erlangung von Anwalts- sowie Notariatspatent während rund 14 Jahren im Kanton Luzern eine eigene Praxis geführt, zuerst in Praxisgemeinschaft mit meinem Vater, danach mit meinem Bruder. Daneben stand ich sozusagen ab Beginn immer mit einem Bein in der Judikative: zuerst als nebenamtlicher Gerichtsschreiber am Kriminalgericht des Kantons Luzern, danach als a.O. Sekretär der Steuerrekurskommission Obwalden und schliesslich als nebenamtlicher Richter am Verwaltungsgericht des Kantons Luzern.

 

1997 wurde das System des Verwaltungsgerichts im Kanton Luzern geändert, die nebenamtlichen Richterstellen wurden abgelöst durch Hauptämter (50%). Da mir die richterliche Tätigkeit immer zugesagt hatte, bewarb ich mich für eine solche Hauptamtstelle und gab meine anwaltliche Tätigkeit auf. Am Verwaltungsgericht war ich – aufgrund meiner Ausbildung zum Eidg. Dipl. Steuerexperten – in der Abgaberechtlichen Abteilung tätig. Zur gleichen Zeit wurde ich auch als nebenamtlicher Richter an die Eidgenössische Steuerrekurskommission gewählt. 

Entgegen kam mir einerseits, dass der Anspruch der CVP auf den Sitz anerkannt war. Und andererseits, dass die Gerichtskommission in der Stellenausschreibung ganz explizit einen Steuerrechtler suchte. - Dr. h.c. Thomas Stadelmann

Mit der Bundesjustizreform wurden die eidgenössischen Rekurskommissionen per Ende 2006 aufgelöst und durch das  Bundesverwaltungsgericht  ersetzt. Ich bewarb mich um eine Richterstelle in diesem neu geschaffenen Gericht und durfte in der Folge den Vorsitz in der Abgaberechtlichen Kammer übernehmen.

 

Im Herbst 2009 ergab sich dann die Gelegenheit, mich für die Stelle als Bundesrichter zu bewerben: Es wurde eine Stelle in der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung ausgeschrieben, welche u.a. für das Abgaberecht zuständig war (welches ca. 1/3 des Fallgutes der Abteilung ausmachte). Entgegen kam mir einerseits, dass der Anspruch der CVP auf den Sitz anerkannt war. Und andererseits, dass die Gerichtskommission in der Stellenausschreibung ganz explizit einen Steuerrechtler suchte; dem Vernehmen nach war das Parlament mit der internen Stellenbesetzungspraxis des  Bundesgerichts  unzufrieden, welche dazu geführt hatte, dass keine Richterperson mit spezifischer, abgaberechtlicher Ausbildung oder zumindest Erfahrung mehr am Gericht tätig war.

 

Sie sagen, die interne Stellenbesetzung des Bundesgerichts habe zum Missfallen des Parlaments dazu geführt, dass am Gericht keine Richterperson mehr mit abgaberechtlichem Hintergrund tätig war. Aber es ist doch das Parlament selber, welches entscheidet, wer am Gesamtgericht tätig ist?

 

Ja, Sie haben Recht mit diesem Einwand. Und es war tatsächlich das Parlament selber, welches es bei Rücktritt der Steuerrechtlerin Danielle Yersin 2008 verpasste, dafür zu sorgen, dass weiterhin jemand mit Erfahrung in diesem Rechtsgebiet am Gericht tätig war. Aber aus Sicht des Parlament wurde das Problem wohl bei der im Folgejahr stattfindenden Gesamterneuerungswahl akzentuiert: Das Parlament bzw. die Gerichtskommission berücksichtigt in aller Regel bei der Stellenbesetzung die Bedürfnisse, welche ihm das Bundesgericht meldet. Und in diesem Fall war es so, dass bei der Gesamterneuerung 2009 aufgrund interner Rochaden in der  II. öffentlich-rechtlichen Abteilung  keine Stelle frei war, und das Gericht der Gerichtskommission gemeldet hatte, es würden zur Zeit Zivilrechtler und Sozialversicherungsrechtler benötigt. Das hat die Gerichtskommission akzeptiert und den kandidierenden Abgaberechtlern aus drei verschiedenen Parteien - ich war einer davon - mitgeteilt, aufgrund der Bedürfnisse des Gerichts würden zur Zeit keine Abgaberechtler benötigt und man könne unsere Kandidatur nicht berücksichtigen. Im Nachgang dazu kam im Parlament jedoch Unmut auf und man meinte, es könne doch nicht sein, dass nun niemand mehr am Gericht tätig sei, der eine spezifische, abgaberechtliche Ausbildung oder zumindest Erfahrung in diesem Rechtsgebiet habe.

 

Was hat Sie dazu motiviert, Bundesrichter zu werden, nachdem Sie bereits Ihr eigenes Anwalts- und Notariatsbüro geführt hatten?

 

Wie Sie aus meinen vorherigen Antworten ersehen, habe ich die Anwalts- und Notariatstätigkeit nicht aufgegeben, um Bundesrichter zu werden. Ich war immer zu einem erheblichen Teil in der Judikative tätig, und als dann die Änderung am Verwaltungsgericht des Kantons Luzern stattfand, musste ich mich entscheiden für Anwalts- und Notariatstätigkeit oder für Richtertätigkeit.

Was mir an der richterlichen Tätigkeit auch sehr gefällt, ist die Möglichkeit, den fachlichen Diskurs mit kompetenten Personen führen zu können, welche ebenfalls das Bestreben haben, ergebnisoffen im Meinungsaustausch Lösungen zu finden. - Dr. h.c. Thomas Stadelmann

Obwohl mir die Tätigkeit als beratender Anwalt und Notar viel Befriedigung brachte, habe ich mich für das Richteramt entschieden. Ausschlaggebend war, dass mir die Möglichkeiten, welche das Richteramt insbesondere im Bereich Verwaltungsrecht mit sich bringt, sehr zusagen: nicht so sehr die Erstellung des Sachverhalts, sondern die Erarbeitung rechtlich fundierter Lösungen mit methodisch korrektem Vorgehen. Die damit verbundenen intellektuellen Herausforderungen geben mir viel Befriedigung. Was mir an der richterlichen Tätigkeit auch sehr gefällt, ist die Möglichkeit, den fachlichen Diskurs mit kompetenten Personen führen zu können, welche ebenfalls das Bestreben haben, ergebnisoffen im Meinungsaustausch Lösungen zu finden. Diesen Aspekt habe ich besonders während meiner Zeit am Bundesverwaltungsgericht sehr geschätzt und finde ihn nun glücklicherweise am Ende meiner Berufslaufbahn wieder.

 

Wie sieht Ihr typischer Arbeitsalltag als Bundesrichter aus?

 

Mein Berufsalltag besteht überwiegend aus lesen, schreiben und denken. Zur Zeit komme ich kaum mehr dazu, eigene Referate zu schreiben. Ich lese die angefochtenen Urteile, die Beschwerden und die Urteilsentwürfe, welche vor allem die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber erarbeiten. Ich bemühe mich, mir eine eigene Meinung zu den sich stellenden Fragen zu bilden und überprüfe, ob die mir vorgelegten Lösungen damit übereinstimmen. Falls ich abweichende Auffassungen habe, schreibe ich und lege meine Überlegungen dar. Grundlage all dieser Tätigkeiten ist natürlich immer auch die Lektüre von Rechtsprechung und Literatur.

 

Ab und zu ist es allerdings mit Schreiben nicht getan und es ist der mündliche Austausch mit den Mitrichterinnen und Mitrichtern erforderlich. Zumeist versuchen wir dabei in internen Sitzungen Lösungen zu finden.

 

Sie sprechen von internen Sitzungen, muss denn das Bundesgericht nicht öffentlich beraten?

 

Sie haben Recht, Art. 59 Abs. 1 BGG sieht vor, dass die mündlichen Beratungen öffentlich sind. Das Bundesgericht interpretiert diese Bestimmung jedoch so, dass vorgängig auch interne Beratungen möglich sind, in welchen kleinere Differenzen bereinigt werden. In der Praxis werden interne Beratungen dann durchgeführt, wenn die Aussicht besteht, dass man eine Einigung erzielen kann. Weiter ist es Praxis, dass man sodann, falls man sich nicht einigen kann, sehr häufig auf eine öffentliche Beratung verzichtet und die Minderheit sich der Mehrheit formell unterzieht. In eine öffentliche Beratung geht man dann zumeist nur, falls die unterliegende Minderheit der Auffassung ist, das (Mehrheits-)Ergebnis unter keinen Umständen gegen aussen mittragen zu können.

Nach meiner Erfahrung gibt es sehr wenige öffentliche Beratungen, in welchen sich die Beteiligten durch Argumente ihrer Mitrichterinnen und Mitrichter zu Meinungsänderungen bewegen lassen. - Dr. h.c. Thomas Stadelmann

Diese Praxis zeigt meines Erachtens, dass es sich bei der öffentlichen Beratung um eine Fehlkonzeption handelt, falls man den Entscheidfindungsprozess im Auge hat: nach meiner Erfahrung gibt es sehr wenige öffentliche Beratungen, in welchen sich die Beteiligten durch Argumente ihrer Mitrichterinnen und Mitrichter zu Meinungsänderungen bewegen lassen. Vielmehr ging es beispielsweise bei den meisten öffentlichen Beratungen, an welchen ich beteiligt war, darum, dass die Mitglieder des Spruchkörpers ihre jeweiligen Meinungen zum Besten gaben und anschliessend die Abstimmung stattfand.

 

Verfolgt man mit der öffentlichen Beratung allerdings den Zweck, die unterschiedlichen Auffassungen des Spruchkörpers transparent werden zu lassen, so gibt es Gründe, die für deren Beibehaltung sprechen. Allerdings wäre es zur Erreichung dieses Zweckes viel sinnvoller, Dissenting und Concurring Opinions einzuführen: mit solchen würden die unterschiedlichen Auffassungen nicht nur den gerade zufälligerweise anwesenden Zuschauern offen gelegt – eine Darstellung der Argumente der unterliegenden Minderheit erfolgt nämlich auch nach durchgeführter öffentlicher Beratung im Urteil regelmässig nicht –, sondern sie wären der breiten interessierten (insbesondere auch der wissenschaftlichen) Öffentlichkeit permanent zugänglich. Dieser letztgenannte Umstand könnte auch erheblich zur Qualitätsverbesserung beitragen, sähe sich doch die obsiegende Mehrheit eher veranlasst, zu den Argumenten der Minderheit klar und differenziert Stellung zu nehmen.

 

Fliessen in die bundesgerichtliche Interpretation des Art. 59 Abs. 1 BGG auch ökonomische oder politische Gründe ein?

 

Das ist eine sehr interessante Frage. Es ist wohl so, dass prozessökonomische Überlegungen die Minderheit oftmals dazu führen können, auf die Durchführung einer öffentlichen Beratung zu verzichten und sich formell der Mehrheit zu unterziehen: dies mit der Überlegung, dass es sich nicht wirklich rechtfertigt, «bloss für die (zumeist zahlenmässig kleine) Galerie» einen grossen Aufwand - mit mehrstündiger Sitzung und vor allem Vorbereitung darauf - zu treiben, wenn von vorneherein klar ist, dass sich am Ergebnis ohnehin nichts ändern wird. Andererseits kommt es bisweilen durchaus vor, dass ein Spruchkörper aufgrund politischer Überlegungen eine öffentliche Beratung durchführt, obwohl das Ergebnis im grossen Ganzen bereits feststeht: dabei wird das Ziel verfolgt, der Öffentlichkeit die Hintergründe des Entscheides etwas näher bringen zu können. 

 

Wie gehen Sie mit der mentalen Belastung um, die durch das Bearbeiten und Analysieren komplexer Fälle entsteht?

 

Die Herausforderung durch komplexe Fälle stellt für mich nicht eine mentale Belastung dar. Vielmehr gibt mir diese Herausforderung Motivation und wenn dann am Schluss - allenfalls auch nach dem Austausch mit Gerichtsschreibenden oder Mitrichtenden - ein «stimmiges» Ergebnis resultiert, gibt mir das Energie.

 

Welche Voraussetzungen sind Ihrer Meinung nach erforderlich, um Bundesrichterin oder Bundesrichter zu werden?

 

Bei der Antwort auf diese Frage muss ich differenzieren. Wenn es darum geht, welche Voraussetzungen faktisch notwendig sind, so ist die Antwort recht einfach: man muss in der richtigen Partei sein, einer derjenigen, welche aktuell gerade Anspruch auf Sitze geltend machen können. Natürlich ist es hilfreich, wenn man einen juristischen Leistungsausweis vorweisen kann.

Viel entscheidender als die Frage nach der parteipolitischen Verortung der Richterinnen und Richter ist nämlich deren Rollenverständnis. Fragwürdig sind Richterpersonen, die ihre Rolle darin sehen, das Recht anstelle des Gesetzgebers weiterzuentwickeln. - Dr. h.c. Thomas Stadelmann

Wenn Sie aber wissen möchten, was mir wünschenswert erscheint, so muss ich etwas weiter ausholen. Es geht um das höchste Richteramt in der Schweiz; wünschbar ist daher meines Erachtens richterliche Erfahrung. Natürlich mag es auf die (heute) 40 Richterinnen und Richter ab und zu eine Quereinsteigerin / einen Quereinsteiger ertragen; dies sollte aber eine Ausnahme bleiben. Sodann ist eine hervorragende fachliche Qualifikation unabdingbar. Damit ist es aber nicht getan. Ebenso wichtig sind Methoden- und Sozialkompetenz. Und – was bis heute noch kaum diskutiert wird – auch das Richterbild, die Einstellung zu den gewaltenteiligen Zuständigkeiten und dergleichen sollten unbedingt zum Thema bei der Richterauswahl werden: viel entscheidender als die Frage nach der parteipolitischen Verortung der Richterinnen und Richter ist nämlich deren Rollenverständnis. Fragwürdig sind Richterpersonen, die ihre Rolle darin sehen, das Recht anstelle des Gesetzgebers weiterzuentwickeln. Und die dementsprechend die Entscheidungen nicht methodengestützt und ergebnisoffen aufgrund der ihnen – vom Gesetzgeber – vorgegebenen Grundlagen suchen, sondern ergebnisorientiert das ihren (politischen) Auffassungen am besten entsprechende Ergebnis ansteuern.

 

Sie wurden als Parteimitglied der Mitte zum Bundesrichter gewählt. Welche Rolle spielt die Politik in der Karriere eines Richters?

 

Die Politik ist für die Karriere eines Richters in der Schweiz – mit einigen kantonalen Ausnahmen - das A und O. Insbesondere auf Bundesebene gilt – wie ich eben bei der Frage nach den Voraussetzungen, um Bundesrichter zu werden, betont habe –, dass man sich der richtigen Partei zugehörig erklären muss. Bei einigen Parteien kommt – leider immer noch – dazu, dass man sich vor einer allfälligen Wahlempfehlung verpflichten muss, nach erfolgter Wahl eine – bisweilen erkleckliche – Mandatsabgabe an die Partei zu leisten.

 

Abgesehen von der Wahlvoraussetzung spielt die Politik in der Richterkarriere praktisch keine Rolle. Und wie bereits erwähnt, wenn Richter “politisch unterwegs sind”, was durchaus feststellbar ist – ich verweise hier bloss beispielhaft auf die jüngste Diskussion zum EGMR –, so ist auch dies nicht eine Frage der Rolle der Politik in der Richterkarriere, sondern vielmehr Ausdruck einer – meines Erachtens bedauerlichen – richterlichen Einstellung.

 

Sie sind Mitbegründer und Herausgeber der  Richterzeitung. Welche Themen stehen derzeit im Fokus der Aufmerksamkeit in der Richterwelt?

 

Viele der Fragen, welche wir seit der Gründung 2005 behandeln, sind sich gleich geblieben. Dauerthemen sind – leider – der Druck auf die richterliche Unabhängigkeit, die Problematik von kurzer Amtsdauer und Wiederwahl, Probleme von Aufsicht und Oberaufsicht. Dauerthemen sind auch die Qualität der richterlichen Arbeit oder die Richterethik. Ein neuer Aspekt stellt KI dar: welchen Einfluss hat diese umwälzende allgemeine Neuerung auf die Judikative, wie geht diese damit um? Und neu akzentuiert hat sich ein Thema, welches latent immer da war – quasi als Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit –, bislang aber kaum thematisiert worden war: der richterliche Aktivismus, die überschreitende Kompetenzanmassung der Judikative.

Schon gewusst?

Thomas Stadelmann ist Mitbegründer und Herausgeber der Richterzeitung. Die Schweizer Richterzeitung «Justice - Justiz - Giustizia» berichtet viermal im Jahr online über die Belange der Judikative inklusive der Strafuntersuchungsbehörden aus schweizerischem Fokus.

Zur Richterzeitung

Sie haben in der Vergangenheit Bedenken hinsichtlich des politischen Einflusses auf die Justiz geäussert. Welche Lösungsansätze empfehlen Sie, um die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter zu schützen?

 

Die Ansätze sind einfach zu formulieren, bislang hat es einfach am – politischen – Willen gefehlt, sie umzusetzen:

 

Die Wiederwahlen – das Hauptproblem für die richterliche Unabhängigkeit - sind abzuschaffen. Richterinnen und Richter sind auf eine feste, relativ lange Amtsdauer – z.B. 15 Jahre für das Bundesgericht – zu wählen. Selbstverständlich ist diese Änderung zu begleiten mit der Schaffung von Kontrollmöglichkeiten: Erforderlich ist eine – justizförmige – Disziplinargerichtsbarkeit. Diese sollte abgestufte Disziplinierungsmöglichkeiten vorsehen, mit der ultimativen Massnahme der Amtsenthebung.

 

Was die Richterwahlen anbelangt, haben wir meiner Meinung nach nicht ein Unabhängigkeitsproblem, aber einerseits ein Qualitätsproblem, andererseits Handlungsbedarf, was die Einschränkung von richterlichem Aktivismus anbelangt. Das Wahlverfahren sollte so umgestaltet werden, dass die Qualität der Kandidierenden – fachlich, methodisch und sozial – und ihre Einstellung zu rechtsstaatlicher gewaltenteiliger Zuständigkeit einziges massgebliches Kriterium darstellen.

 

Als weitere Massnahme zur Einschränkung von richterlichem Aktivismus und Wiederherstellung des Primats des Gesetzgebers sollte einerseits die Schubert Praxis explizit in Art. 190 BV verankert werden. Andererseits sollte dem Parlament eine entscheidende Rolle eingeräumt werden bei der Beurteilung, ob und in welcher Form Entscheide des  EGMR  umgesetzt werden sollen.

 

Anmerkung der Redaktion: Ergänzende Informationen zum Thema Schubert Praxis und Art. 190 BV finden Sie im Jusletter-Beitrag von Thoms Stadelmann mit dem Titel  Verfassung – Bundesgesetze – Völkerrecht: Besteht Bedarf auf Anpassung der Bundesverfassung?  in der Jusletter-Ausgabe vom 7. Oktober 2019.

 

Die  Universität Basel  hat Ihnen einen Ehrendoktortitel verliehen für Ihr Engagement für die richterliche Unabhängigkeit, die Gewaltenteilung und den Zugang zur Justiz in europäischen Staaten mit bedrohter Rechtsstaatlichkeit. Welche Entwicklungen haben Sie in den letzten Jahren beobachtet?

 

Die Situation der Justiz, d.h. deren unabhängige Stellung, hat sich allgemein verschlechtert. Dies hängt insbesondere auch damit zusammen, dass populistische Regime Aufwind erhalten haben, welche versuchen, die Justiz zu ihren Zwecken zu instrumentalisieren. Anlass zu Hoffnung geben immerhin Entwicklungen wie in Polen, die zeigen, dass solche Tendenzen nicht unumkehrbar sind.

 

Ich erlaube mir in diesem Kontext anzumerken, dass es wenig hilfreich ist, wenn auch die Justiz ihrerseits die ihr vorgegebenen Grenzen überschreitet und beginnt, politisch – und allenfalls auch populistisch – zu entscheiden. Dadurch – und nicht etwa wie fälschlicherweise moniert wird, durch die Kritik an diesem Verhalten – wird das Vertrauen in die Justiz zusätzlich untergraben; der Justiz, deren Unabhängigkeit eine Garantie für die Rechtsuchenden darstellt, wird damit ein Bärendienst erwiesen.

 

Welche Ratschläge möchten Sie Jurastudierenden geben, die sich für eine Karriere am Bundesgericht interessieren?

 

Eine Karriere am Bundesgericht, verstanden als eine Position als Bundesrichterin oder Bundesrichter, lässt sich nicht planen; sie ist von sehr vielen Zufälligkeiten abhängig. Ich möchte daher davon absehen, hier diesbezügliche Karriereratschläge zu erteilen. Viel wichtiger scheint mir der Hinweis, dass einem Jurastudierenden nach dem Abschluss des Studiums eine Welt voller Möglichkeiten offensteht. Finden Sie heraus, was Sie fasziniert und engagieren Sie sich in diesem Bereich.

 

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in Ihre Karriere und Ihre Arbeit am Bundesgericht. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute!

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